Zu guter Letzt 06/2016: Make me free! (from)

Wer möchte nicht gerne FREI sein? Frei von Zuckersucht, Angst und Panikattacken, Herrschaft und Nackenschmerzen… (Amazon: Suchwort „frei von“); von zu vielen Verpflichtungen, festen Arbeitszeiten, nervigen Mitmenschen, Geldnot, Fremdbestimmung – und Krankheiten.

Was schwierig klingt, ist scheinbar ganz einfach, zumindest in Bezug auf Krankheiten: Einfach frei von X essen und man wird frei von der Y-Krankheit oder fühlt sich mehr Z (Z = wach, leistungsfähig, gesund etc.). In irgendeiner/m Zeitschrift/ Homepage/Forum findet man immer, dass X Y verursacht oder frei von X Z fördert. Ich erinnere mich: Die Bauchschmerzen vor dem Konfliktgespräch mit meinem Sohn kamen bestimmt von dem Rosinenbrötchen, das ich vorher gegessen hatte. Deswegen lasse ich jetzt Rosinen, Gluten und Milch weg. Damit geht’s mir gleich gefühlt besser (bis zum nächsten Krach).

Vielleicht mache ich auch endlich zuhause schnell den Selbsttest, mit dem in meinem Blut alle möglichen Unverträglichkeiten auf übliche Lebensmittel aufgespürt werden. Ah, Weizen ist dabei – das war‘s! Meine „Weizenwampe“ hat mich auch so müde gemacht, davon habe ich gelesen. Rosinen lasse ich jetzt trotzdem weg, sicherheitshalber und wegen der Fruktose. Ich sollte wohl auch noch Wildpilze vermeiden (Radioaktivität), rotes Fleisch (krebserregend), Alkohol (dito), Kaffee (Aufputschmittel), vielleicht trotzdem auch Milch? (ist nur für Kälbchen!), Honig? (ist nur für Bienen!), exotische Früchte (unökologisch! Andererseits sind sie doch vegan?). Dafür esse ich mehr Brokkoli (viele Vitalstoffe!), Ingwer (viele Vitalstoffe!), Chia (viele Vital…), Kokosöl (viele …), Ananas (Bromelain! – oder lieber nicht wegen des Transportwegs, also auch keine Papaya? [Papain]) und trinke mehr Ziegenmilch (irgendwie besser als Kuhmilch) … Vielleicht mache ich mir eine tägliche Liste (oder gibt´s da schon eine App?), was ich essen und was ich vermeiden muss, sonst fange ich mir womöglich Diabetes ein oder Hautausschlag.

Ich möchte meinen Mitmenschen zurufen: Glaubt doch nicht alles, was Klatschblätter und Internetforen enthüllen! Lasse es aber gleich, denn solange noch Horoskope à la „am Dienstag sollten Sie keine wichtigen Entscheidungen treffen“ nachgefragt werden...

Bitte entschuldigen Sie, dass das zynisch klingt. Ich kann bei „ich esse jetzt kein X mehr/täglich X, weil ich im Internet gelesen habe …“ den Ausruf „Wo hast du den Quatsch denn wieder her!“ kaum noch zurückhalten. Mein Gegenüber könnte ja zu den wenigen Prozent Allergiebetroffenen gehören, die X wirklich nicht vertragen. Eine gewisse Müdigkeit gegenüber solchen Aussagen lässt sich aber nicht verheimlichen.

Müdigkeit? Das ist bestimmt wieder der Weizen, den lasse ich zur Probe jetzt doch mal zwei Wochen weg. Dann schaffe ich es bestimmt auch, die späten Spiele der Deutschen bei der Fußball-EM zu schauen und dazu ein nach Reinheitsgebot gebrautes (also natürliches!), örtliches (Gersten-)Bier zu trinken, ohne am nächsten Tag müde zu sein!

In diesem Sinne einen genussvollen Juni wünscht Ihnen

Dr. Sabine Schmidt



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 06/16 auf Seite M372.

PDF Artikel Download für Abonnenten:

Das könnte Sie interessieren
Sternchensuppe weiter
Die Rolle der Ernährungstherapie in der Behandlung von Essstörungen weiter
30 Jahre Diätassistenten-Gesetz: VDD fordert „Novellierung jetzt!“ weiter
Verbände fordern verstärkte Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen zur Steigerung der... weiter
61. Wissenschaftlicher Kongress der DGE weiter
Pflanzliche Speisefette und -öle weiter