Zu guter Letzt 08/2016: „Ach du dicker Tsunami!“

Warum tun deutsche Politiker nicht genug zur Verhältnisprävention, dem neuen Zauberwort zur Bekämpfung der Adipositas? Warum hören sie nicht auf die Gesundheitsökonomen, die vorrechnen, dass Übergewicht die Deutschen jährlich bis zu 30 Mrd. € kostet? (Alkoholmissbrauch allerdings noch 30 % mehr). Maßnahmen wie die verpfl ichtende Einführung der verfügbaren Qualitätsstandards in der Gemeinschaftsverpflegung oder ein Werbeverbot für sog. Kinderlebensmittel wären gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und müssten nur beschlossen werden. Alles aber hängt stets vom persönlichen Engagement einzelner Politiker ab.

Warum? Eine naheliegende Idee ist, dass die Entscheidungsträger selbst genussfreudig oder konfliktbeladen, dick oder dünn, Raucher und Nichtraucher sind. Die Einmischung in die Privatsphäre, zu der das Essen genauso gehört wie (riskante) Hobbys, die Wahl einer (überfordernden) Arbeitsstelle oder (unglückliche) Liebesbeziehungen, wird aber von den meisten im Innersten abgelehnt. Ein Werbeverbot für Süßigkeiten? Ja. Ein Verbot von Süßigkeiten? Nein. Diese Ablehnung eines von außen aufgedrückten Verhaltensdiktats ist menschlich und schützenswert. Dies fühlen auch Politiker und zögern.

Ein zweiter Grund könnte sein, dass die Elite der Gesundheitswissenschaftler zwar denkt, ihr Gesundheitsfokus sei richtig und logisch, die Bevölkerung diese Meinung aber nicht zwangsläufig teilt. Gesundheit ist nur ein Motiv unter vielen und meist erst dann ein Primärbedürfnis, wenn sie abhandenkommt. Anhaltend gibt es soziologische, pädagogische und psychologische Forschung, die Sturm läuft gegen das „Diktat“ der Gesundheit, es u. a. als unser protestantisches Erbe bezeichnet – die Moral von der Mäßigung. Ist es uns wirklich mehr Wert, Menschen „normalgewichtig“ zu machen, als die Unterschiede zwischen Reichen und Armen zu verringern? Es fällt auf: Die Gesellschaft ist sich überhaupt nicht im Klaren, ob das „Übergewicht“ tatsächlich ein Problem ist, das „bekämpft“ werden muss, und inwieweit sich „der Tsunami“ der Adipositas eigentlich bekämpfen lässt (ein furchtbarer Vergleich, der trotzdem oft gebraucht wird). Diese offenen Fragen müssen geklärt werden, noch vor der wirklich wichtigen Diskussion, wie wir die Politik dazu bewegen können, verhältnisgestaltende Maßnahmen zum Nutzen aller Bürger-/innen als selbstverständlichen Wert deutscher Politik durchzusetzen.



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 08/16 auf Seite M492.

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