Zu guter Letzt 10/2018: In der Bahnhofsbuchhandlung

Früh am Morgen am Bahnhof in der westfälischen Provinz – und der Zug hat größere Verspätung, wieder einmal. Auf dem Bahnsteig ist es nass und zugig. Die Sitzbänke sind besetzt, kalt und schmuddelig. Also zurück in die sich füllende Bahnhofshalle in Richtung des hell erleuchteten Pressekiosks.

Neben den obligaten Wühltischen mit leichter Zuglektüre und Stapeln angesagter Bestseller bleiben meine Augen an zwei ordentlich aufgestellten Buchständern hängen, die gleich mein professionelles Interesse wecken. Mein Blick ist gefangen von 48 verlockend farbenfrohen Büchern mit Ernährungs- und Gesundheitsthemen: Neben den Basisbüchern zur Übersäuerung, zur basischen oder ketogenen Ernährung oder über Schüsslersalze stehen säuberlich aufgereiht Ratgeber, um Cholesterin, Bluthochdruck und Zucker zu senken. Daneben die ganze Buchpalette über Kokosnuss- und Sonstwas-Superfoods sowie Frei-von-Trittbrettfahrer (neu: Vegan ohne Soja). Dann die Helfer mit neuesten Infos über die heimlichen Killer Zucker, Fett und Gluten sowie aufklärende Lektüren über unzählige Ernährungsirrtümer, -lügen und -mythen.

Unschlüssig bin ich, ob ich eher dem Krebs davonlaufen oder mich lieber auf die Anti-Krebs-Diät einlassen soll, das Turbostoffwechsel- und das 20:80-Abnehmprinzip anwenden oder vielleicht doch vorrangig die Anti-Alzheimer- Formel beachten soll und mit der „Kraft der Natur“ gleich „15 Jahre länger leben“ will. Oder doch lieber das ultimative Buch „How-Not-to-Die – Entdecken Sie Nahrungsmittel, die Ihr Leben verlängern“?

Sie ahnen es schon: Kein einziges Buchformat hat einen wissenschaftlichen Anspruch, ganz viel Halbwissen, Irreführungen und Falschaussagen. Viele AutorenInnen jonglieren mit medizinischen Begriffen, mit wissenschaftlich klingenden Studien und wirken auf den Laien mitunter sehr überzeugend. Andere spielen mit der Angst der Menschen und bieten PatientInnen schon nicht mehr für möglich gehaltene Strohhalme. Vieles ist eindeutig als pseudowissenschaftlich zu bezeichnen oder gehört in die Esoterikecke. Manches erinnert doch sehr an mittelalterliche Quacksalberei und Scharlatanerie. Im günstigeren Fall ist der Kauf dieser Schriften nur schlecht fürs Portmonee, im schlimmeren Fall aber gefährlich, wenn z. B. PatientInnen mit schweren Erkrankungen versuchen, sich selbst nach den Vorgaben der Lektüre zu therapieren und wichtigen ärztlichen Maßnahmen nicht vertrauen.

Erschüttert über so viel unernährungswissenschaftliche Angebote in der Provinz suche ich abends vor der Rückfahrt aus Bonn den dortigen Bahnhofskiosk auf: Aber auch hier – in der ehemaligen Hauptstadt – das gleiche Repertoire, nur in doppelter Zahl und ebenfalls an exponierter Stelle platziert.

Kein Wunder, dass „der gemeine Bürger“ bei so geballter Möglichkeit zur ernährungswissenschaftlichen Fehlbildung zwischen Fake und Facts nicht mehr unterscheiden kann. Mir bleibt die Hoffnung, dass die skeptischeren LeserInnen auf ihre Logik und ihr Wissen bauen, sich nicht täuschen lassen und vielleicht auf das YouTube-Video von Dr. med. Janos Hegedüs stoßen:
https://m.youtube.com/watch?feature=youtu.be&v=d9BDycPetwc

Ihr Helmut Heseker



Diesen Artikel finden Sie wie auch die Vorschau in Ernährungs Umschau 10/2018 auf Seite M592.

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