Rezension 11/03

Lebensmittelqualität als Tat-Sache

Lebensmittelqualität ist für jeden, der mit Ernährung und Essen umgeht, ein zentrales Thema. Doch der sperrige, nie wirklich präzise zu definierende Begriff verdeutlicht zugleich, wie schwierig es auf den Punkt zu bringen ist, worum es in den diversen Debatten über unsere tägliche Kost eigentlich geht. Dies gilt nicht nur innerhalb der Naturwissenschaften, wo insbesondere alternative Ansätze Erweiterungen des tradierten Verständnisses von Lebensmittelqualität fordern. Dies gilt auch und gerade in der Diskussion mit den Kulturwissenschaften und vor allem mit der Mehrzahl der Essenden.

Das vorliegende Buch des schweizer Sozialwissenschaftlers Kurt Hofer – eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation – versucht, dieses komplexe Feld systematisch zu erschließen. Hofer, der bereits mehrere Arbeiten zur Nachhaltigkeit und regionalen Produktorganisation vorgelegt hat, verfolgt und überprüft dabei einen bewusst anderen Ansatz als in der Mehrzahl ernährungswissenschaftlicher Arbeiten.

Lebensmittelqualität ist für ihn nicht nur eine objektiv gegebene Eigenschaft eines Objektes oder aber die Summe bestimmter, teils subjektiver Teilqualitäten. Im Anschluss an die in den Kulturwissenschaften seit mehreren Jahren intensiv diskutierte Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony Giddens entwickelt Hofer sein Konzept einer "Tat-Sache Lebensmittelqualität". Dieses stellt nicht Verhalten in den Mittelpunkt, sondern das (Ess-)Handeln. Der Mensch erscheint aktiv und selbstreflexiv, handelt allerdings immer auch in Bezug auf bestehende und dadurch veränderbare soziale Strukturen. Die theoretischen Überlegungen können hier nicht dargelegt werden, doch bilden sie gerade für Nicht-Soziologen eine gute Einführung in das andersartige Denken der Kulturwissenschaften. Hofer präsentiert dieses geduldig und zugleich verständlich.

Doch die Arbeit will nicht allein unser Verständnis der grundlegenden Mechanismen erweitern, wie Lebensmittelqualität in unserer Zeit zu verstehen ist. Sie will auch einen Beitrag zur Vertrauensbildung im Bedürfnisfeld Essen liefern. Dazu analysiert und bewertet Hofer ausführlich die wichtigsten Vor-Arbeiten. Wichtiger aber noch ist die qualitative Auswertung von 18 Experteninterviews, die er in der Schweiz geführt hat. Am Ende steht eine vielschichtige Antwort: Die Verunsicherung der Konsumenten über die Qualität unseres Essens erscheint als Ausdruck und Kennzeichen handelnder Menschen. Sie ist besonders bei Meinungsführern und gut informierten Personen verbreitet, verweist auf tiefgreifende unbewusste Ängste über körperliche Unversehrtheit. Verbunden mit latentem Misstrauen und Informationsunsicherheit führen diese zu einem "sich selbst erhaltenden und verstärkenden Teufelskreis" (S. 280), der nur durch Zutrauen und Zuversicht gesprengt werden kann.

Wichtig ist, dass sich dieser dynamische Zusammenhang auch auf der gesellschaftlich-strukturellen Ebene wiederfindet. Hier besteht schon seit Jahren eine hohe Wandlungsdynamik in der Produktion, Kontrolle, Regelung und Wissenschaft. Zwischen diesen Bereichen bestehen strukturell unterschiedliche Qualitätsvorstellungen, die letztlich den grundlegenden Gegensatz von Natur und Kultur spiegeln. Offen zeigt sich die Bedeutung gesellschaftlicher Macht. Produktion und etablierte Wissenschaft arbeiten in der Qualitätsdiskussion Hand in Hand, grenzen so Ansätze er Lebensmittelkontrolle und -gesetzgebung tendenziell aus. Die Folge ist ein Qualitätsverständnis, das zunehmend unverstanden ist, dass das Misstrauen insgesamt verstärkt.

Um aus diesen beiden "Teufelskreisen" herauszukommen, empfiehlt Hofer, die zentrale Bedeutung persönlicher Beziehungen und Begegnungen für die Schaffung von Vertrauen neu zu bedenken. Er propagiert, Strukturen transparent zu halten, Möglichkeiten der persönlichen Einsichtnahme zu schaffen und zu institutionalisieren. Organisierte Dialoge sind dabei hilfreich. Notwendig erscheint Hofer zugleich personell und wirtschaftlich unabhängige Kontroll- und Regelungsverfahren, ferner eine systematische praktische Beschäftigung mit Lebensmitteln und ihrer Herstellung.

Das Buch besticht durch seine konsequent vorgetragene und durchgeführte Argumentation, durch die stete Reflexion der eigenen Ergebnisse. Es ist daher als eine Einführung in das andere Denken der Kulturwissenschaften bestens geeignet. Schwächen bestehen sicherlich in der empirischen Fundierung der eigenen Aussagen, ebenso in der nicht völlig überzeugenden Verbindung von individuell-psychischer und gesellschaftlich-struktureller Analyseebene. Gleichwohl kann Hofers Buch gerade Ernährungswissenschaftler/innen bestens empfohlen werden, kann es doch Vertrauen schaffen und belegen, dass die begrenzten Ergebnisse der eigenen Disziplin nicht das letzte Wort sein müssen. Fundierte Antworten auf die mit Essen und Ernährung verbundenen Fragen sind gerade durch die zusätzliche Beschäftigung mit kulturwissenschaftlichen Arbeiten möglich.

Uwe Spiekermann, Göttingen (z. Zt. London)

Hofer, Kurt: Lebensmittelqualität als Tat-Sache. Eine qualitative Analyse der Entstehung von Verunsicherung und Vertrauen im Bedürfnisfeld Essen. Geographica Bernensia, Reihe G, Bd. 70. 327 S. Geographica Bernensia, Bern 2002, ISBN 3-0906151-64-6, CHF 38,-.
EU11/03

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