Tagungsbericht: Soziale Ungleichheit und Ernährung

(umk) Essen und Trinken wollen und müssen wir alle, darin sind alle Menschen gleich. Wenn wir jedoch die Ressourcen und Rahmenbedingungen anschauen, unter denen Menschen essen und trinken, sind wir mitten im Thema Ungleichheit. Das Totalphänomen Ernährung ist – gewollt oder unbeabsichtigt – Indikator für Ungleichheit. Aus diesem Anlass hatten Prof. Lotte Rose, University of Applied Sciences Frankfurt, PD Dr. Markus Gamper, Universität Köln, und Jun. Prof. Tina Bartelmeß, Universität Bayreuth, am 17. und 18.03.2025 in die Räume der Fritz-Thyssen-Stiftung nach Köln eingeladen. Rund 50 Teilnehmende nutzten die Vorträge, Diskussionen und Pausengespräche zum interdisziplinären Austausch.

Dr. Johanna Neuhauser, Universität Wien, machte in ihrer Keynote Intersektionalität in der Ungleichheitsforschung – Buzzword oder notwendige Komplexität? die Hauptkategorien – gender, class und race –, die Komplexität, aber auch die Nützlichkeit des 1989 von der amerikanischen Juristin und Bürgerrechtsaktivistin Kimberlé Crenshaw geprägten Begriffs der Intersektionalität deutlich.
Von der übergeordneten, theoretischen Ebene auf die alltäglichen familiären Ernährungspraktiken in Haushalten Alleinerziehender lenkte Katja Grötzner, Hochschule Fulda, den Blick in ihrem Vortrag: 2,5 Mio. Kinder in Deutschland leben in Haushalten Alleinerziehender. Alleinerziehende stellen aktuell 27 % der Tafelkund*innen; sie sind die am häufigsten von Armut betroffene Familienform.
Ungleiche Lebensbedingungen spiegeln sich auch in der Gemeinschaftsverpflegung wider: Über Ungleiches essen in Kindertagesstätten berichteten Cano Amely und Prof. Dr. Frederike Schmidt. Das DFG-Projekt „Nutritive Erziehung und Sorge in Kindertageseinrichtungen“ (NEuSiK) begleitete u. a. Ess-Situationen in Kitas. Ja, es gibt die DGE-Qualitätsstandards für die Verpflegung in Kitas, aber diese werden nicht flächendeckend umgesetzt. Die Fallbeispiele der NEuSiK-Studie zeigen zudem, dass sich die generationelle Ungleichheit Kind/Erwachsene (Erzieher*innen), also im täglichen Umgang, in Kitas reicherer und ärmerer Wohngegenden anders auswirkt.
Die ernährungspsychologische Sicht auf Trans- und intragenerationelle Effekte auf das Ess- und Ernährungsverhalten stand im Mittelpunkt des Vortrags von Prof. Dr. Ulrike Gisch, Universität Gießen. Sie beleuchtete die ungleichen Machtverhältnisse und unterschiedlichen Strategien von Kindern und Eltern – Verweigern, Restriktion, Drängen, Belohnen, aber auch gezielte Vorbildfunktion – auf die Entwicklung des Ernährungsverhaltens.
Über Essen bzw. Ernährungsstile grenzen sich Menschen voneinander ab oder finden sich zu Gruppen Gleichgesinnter zusammen. Prof. Dr. Oliver Berli, PH Ludwigsburg, beschrieb an Beispielen, wie Essen als Distinktion zelebriert wird und wie die Lebensmittelindustrie und der Handel dies in Form von Verkostungen, Sommelier- oder Barista-Kursen zur Bindung der Kund*innen nutzen. Auch wenn teilweise gilt: „Snobismus ist out“ (spricht gegen hochpreisige Genuss- und Lebensmittel), bilden sich neue Prestige-Produkte (besonders nachhaltig/fair/kultursensibel usw.) für zahlungskräftige Kund*innen heraus.
Ungleichheiten in der Essbiografie werden auch an Hochschulen deutlich: Dr. Judith Ehlert, Uni Passau, interviewte internationale Studierende aus Drittstaaten und ihr Lebensmittelumfeld in Bayern. Wichtige Erkenntnisse: Gewohnte Lebensmittel werden vermisst oder sind nicht in der gewünschten Qualität erhältlich, Verhaltensregeln beim Essen wie Gemeinschaft oder kritische Reaktionen auf das Essen mit den Händen ohne Besteck führen zu Ausgrenzungserfahrungen.
Gewohnte Lebensmittel und Essen in Gemeinschaft gehören für Geflüchtete zu den wenigen Bezugspunkten zur aufgegebenen Heimat. Jun.-Prof. Dr. Barbara Wittmann, Universität Bamberg, berichtete aus dem Regensburger Projekt Ernährung und Migration: Empirische Einblicke aus Ankerzentren und Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete. Ihre begleitende Sozialforschung machte deutlich, welche Faktoren Integration erleichtern (z. B. eigener Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln) oder erschweren (Unterkünfte ohne Küche auf dem Land mit erschwertem Zugang zu Lebensmittelmärkten mit adäquatem Angebot).
Prof. Dr. Angela Häußler, Pädagogische Hochschule Heidelberg, eröffnete den zweiten Tagungstag und schilderte Intersektionale Perspektiven auf Essen und Ernährung. In ihrem historischen Abriss arbeitete sie die jeweiligen Bezüge zu race (Beispiel: EDEKA startete um die vorletzte Jahrhundertwende als Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler), gender (care-Arbeit und Rolle der Hausfrauen als Konsumentinnen nach dem 2. Weltkrieg), aber auch class (schichtspezifisches Rollenverständnis, Beispiel: „korrekte“ Brotdosenfüllung als typische Mittelschichtsdebatte) heraus.
Der Beitrag Gender und Ernährung von Prof. Dr. Jana Rückert-John, Hochschule Fulda, schloss sich thematisch an und machte u. a. anhand von Daten der Gleichstellungsberichte der Bundesregierung deutlich, wie das derzeitige Ernährungssystem Geschlechterrollen erhält/reproduziert. Wesentliche biografische Ereignisse, die oft eine Re-Traditionalisierung des Rollenarrangements bewirken, sind die Heirat und die Geburt des ersten Kindes.
Was essen „echte Kerle“? Männlichkeiten in der Ernährungswende betitelte Dr. Martin Winter, Hochschule Fulda, seinen Vortrag und beschrieb, wo und warum sich die als eher männlich geltenden Eigenschaften (z. B. höherer Fleischkonsum, Interesse an Autos) in Zielkonflikten mit Gesundheits- und Nachhaltigkeitszielen befinden.
Wie korrelieren SES, also sozioökonomischer Status und Ernährungsungleichheiten? Dr. Juliane Yildiz, Universität Gießen, lieferte in ihrem Vortrag die Definition und empirische Erkenntnisse. In vielen Untersuchungen werden der SES bzw. die Parameter Schulbildung, Haushaltseinkommen und berufliche Stellung (als „statusbildende Merkmale“) zur Charakterisierung von Menschen genutzt. Die Gesundheitsberichterstattung zeigt, dass das Essverhalten mit der Schichtzugehörigkeit korreliert: Sie bestimmt damit in erheblichem Maße die Gesamtlebenserwartung und die gesunde Lebenserwartung. Es zeigen sich dabei Unterschiede von mehreren Jahren zwischen dem unteren und dem höchsten SES.
Wie beeinflussen sich Soziale Ungleichheit und Ernährung? Erklärungen und Interventionen lieferte PD Dr. Simone Weyers, Uniklinikum Düsseldorf, anhand des structure and agency-Modells. Es beschreibt, wie sich gesellschaftliche Strukturen und die individuellen Handlungsweisen der Menschen gegenseitig beeinflussen. Weyers betonte die Bedeutung von Gesundheitskompetenzen für bestehende Public-Health-Herausforderungen. Viele Informationen und Veranstaltungstipps zum Thema gibt es auf der Website www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Das Forschungsgebiet der Sozialgeographie untersucht die Beziehungen menschlicher Gruppen zu den von ihnen bewohnten Regionen/Lebensräumen. Univ.-Prof. Dr. Andreas Koch, Universität Salzburg, referierte aus dieser Perspektive über Sozialräumliche Strategien lokaler Ernährungssicherung.
Dr. Anja Simmet, Universität Hohenheim (online zugeschaltet), und Dr. Michael Teut, Charité Berlin, stellten Daten und Fallbeispiele der MEGA_ kids-Studie zur Ernährungs- und Gesundheitssituation armutsgefährdeter Familien vor. Die ausführlichen Daten finden sich im aktuellen 15. Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung [1].
Gesund und nachhaltig essen, trotz kleinem Budget ist eine Herausforderung. Silvia Monetti, Verbraucherzentrale NRW, schilderte in ihrem Vortrag zum IN FORM-Projekt [2] Ansätze zur Unterstützung bei der Lebensmittelauswahl, z. B. durch Einkaufsschulungen.

Anmerkung der Redaktion: Anhand von Ernährung, Essen und Trinken mit ihren vielfältigen Bezügen zu den unterschiedlichsten Lebensbereichen werden (gerne ausgeblendete) Ungleichheiten unserer Gesellschaft im Alltag deutlich. Benachteiligungen ebenso wie Bestrebungen, sich durch Essen und Trinken von anderen abzugrenzen bzw. sich Gruppen zuzuordnen. Die Veranstalter*innen und Referent*innen dieser Tagung haben mit ihrer Auswahl der Themen die gesellschaftliche Relevanz und das Potenzial der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Ernährungsthemen eindrücklich belegt. Ein Tagungsband zu den Vorträgen der Veranstaltung ist geplant.

Literatur
1. DGE: Ernährungssituation armutsgefährdeter Haushalte mit Kindern – neue Daten im 15. DGE-Ernährungsbericht. www.dge.de/presse/meldungen/2024/15-dge-eb-ernaehrungssituation-armutsgefaehrdeter-haushalte-mit-kindern/  (last accessed on 8 April 2025).
2. Verbraucherzentrale NRW: Gesund, nachhaltig und günstig essen – wie geht das? www.verbraucherzentrale.nrw/gesund-essen-mit-kleinem-budget  (last accessed on 8 April 2025).



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 5/2025 auf den Seiten M268 bis M269.

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