Ein Schwerpunkt der Tagung: Ideologisch geprägte Gespräche werden zur Herausforderung für ausgebildete Ernährungsfachkräfte. © UZV
Ein Schwerpunkt der Tagung: Ideologisch geprägte Gespräche werden zur Herausforderung für ausgebildete Ernährungsfachkräfte. © UZV

Erste Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU: Identität und Emotionen bestimmen „postfaktische“ Kommunikation

  • 01.11.2017
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Auf der ersten Fachtagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU haben fünf Experten in Vorträgen und Workshops Denkanstöße und Werkzeuge für die Ernährungskommunikation in der Praxis geliefert. Ideologisch geprägte Essentscheidungen und die Beeinflussung durch die Medien machen die Beratung komplexer – umso gefragter ist ein konfliktarmes und wertschätzendes Gesprächsklima.

Mehr als 70 Teilnehmer kamen ins Haus am Dom in Frankfurt am Main. © UZV
Mehr als 70 Teilnehmer kamen ins Haus am Dom in Frankfurt am Main. © UZV

„Seit dem Auftreten der veganen Bewegung wird viel stärker über 'gesund' und 'ungesund' diskutiert, das ist eine Gretchenfrage." Gleich zu Beginn der Fachtagung machte die Wissenschaftsjournalistin Johanna Bayer mit diesem und weiteren Zitaten deutlich: Ernährungstrends wirken meinungsbildend – allerdings oft einseitig und polarisierend. Die Bloggerin sieht am Beispiel vegetarischer oder veganer Ernährung die Gleichsetzung eines Trends mit "gesunder Ernährung" als besonders kritisch an, denn die Folgen wie Nährstoffmangel und die lange Tradition von Gerichten mit Fisch und Fleisch würden ausgeblendet.  

Auch Journalisten und Presseabteilungen bewegen sich, so Bayer, in „Blasen“ und werden in Ihrer Themenauswahl durch Trends beeinflusst. Extrembeispiele sind für Bayer Dokus, Tests und Interviews nach Drehbuch. „Hier werden nicht selten die zu einer vorher geplanten Aussage passenden Statements von Experten eingesammelt." Aber: Experten werden die Medien nicht ändern, sie sollten stattdessen lernen, deren Gesetzmäßigkeiten zu nutzen. Parallel riet Bayer, an der Kompetenz der Mediennutzer zu arbeiten.  

Einblicke in Kulturgeschichte und Psychologie
Markus Schreckhaas. © UZV
Markus Schreckhaas. © UZV

Der Kulturwissenschaftler Markus Schreckhaas von der Universität Regensburg zeigte den Teilnehmern anhand seines Vortrags, dass den Menschen heute Leitperspektiven fehlen und Essen daher die Chance hatte zur Ideologie zu werden. „In 500 000 Jahren Esskultur wussten die Menschen immer, was sie essen sollten – heute suchen sie nach Orientierung”, sagte Schreckhaas. 

In seiner kulturgeschichtlichen Übersicht machte der Experte außerdem klar, dass sich der Essalltag in Europa heute nicht mehr nach dem Willen der Kirche richtet oder von Hungersnöten geprägt ist. „Stattdessen suchen wir nach dem richtigen Essen in der Lebensstilgesellschaft und erhalten eine neue Projektionsfläche, über die sich nicht nur Freude und Genuss ausdrücken lassen, sondern auch Macht", so Schreckhaas.

Dies passt auch aus psychologischer Sicht, denn Gefühls- und Denkprozesse sind für die Steuerung unseres Essverhaltens essenziell. Prof. Dr. Michael Macht von der Universität Würzburg forscht zu Essen und Emotionen, er erklärte: „Bei der Modifikation des Ernährungsverhaltens lassen sich bleibende Effekte nur erreichen, wenn Essregeln in den individuellen emotionalen und kognitiven Kontext eingepasst werden.” 

Was bedeutet dies für die Kommunikation in der Beratung?
Prof. Dr. Katja Kröller im Workshop: „Essen dient sehr stark der eigenen Identitätsfindung.” © UZV
Prof. Dr. Katja Kröller im Workshop: „Essen dient sehr stark der eigenen Identitätsfindung.” © UZV

Der emeritierte Prof. Dr. Hermann Boland, der an der Universität Gießen lehrte, übernahm den Vortrag mit der zentralen Frage: Wie gelingt (Ernährung-)Kommunikation in postfaktischen Zeiten? Und wie lässt sich dies auf die Beratung übertragen? Für die Auflösung zitierte er unter anderem die bekannten Ernährungspsychologen Volker Pudel und Joachim Westenhöfer: „Ernährungsberatung hat mit Verhaltensproblemen zu tun. Ihr Ziel besteht darin, die im Klienten vorhandenen Kräfte zu aktivieren, um Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Sie ist ein Serviceangebot, das die Prinzipien der freiwilligen Inanspruchnahme, der Eigenverantwortung des Klienten und seiner kompetenten Selbstentscheidung in den Vordergrund stellt.” Es gehe, so Boland, nicht vorrangig darum, aufgrund postfaktischer Strömungen die Ernährungsberatung umzustellen. Vielmehr sei es erforderlich, dass der Berater dem Klienten partnerschaftlich begegnet und ihn befähigt und ermutigt in Eigenverantwortung etwas zu verändern.

Diesen Ansatz griff auch Prof. Dr. Katja Kröller von der Hochschule Anhalt in ihrem Workshop zur Ernährungspsychologie auf. Sie riet den Teilnehmern, in der Beratung auf Selbstbestimmung  zu achten, biografisch zu arbeiten und als Moderator zu wirken. „Die Beratung soll auf Wunsch Fachinformation liefern, sich aber nicht auf einen Konflikt über Argumente einlassen”, so Kröller.  

Fazit der Redaktion

Wie die Vorträge und Workshops der ersten Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU gezeigt haben, geht es in „postfaktischer“ Kommunikation nicht um Inhalte, sondern um emotionale Faktoren wie das Ausdrücken von Zugehörigkeit oder Abgrenzung („andere auf die eigene Seite ziehen“). Warum passiert das gerade jetzt? Weil es immer weniger „automatische“ Zugehörigkeiten wie vorgeschriebene Rollen oder Lebensstile gibt („Lebensstilgesellschaft“). Lebensstiltrends bieten Orientierung, die Menschen suchen und – ganz menschlich – brauchen. Aber „postfaktische Zeiten“ hin oder her: Es sollten weiterhin die Prinzipien einer guten, aufmerksamen Kommunikation und Beratung gelten.



Neuer Termin: Die nächste Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU findet am 19. Oktober 2018 statt!

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