Special: Vitaminforschung und Supplementierung im nationalsozialistischen Deutschland: eine Einordnung im internationalen Vergleich*

Hans-Georg Joost, Nuthetal

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten die bahnbrechenden Versuche von Wilhelm Stepp in Deutschland und Elmer Mccollum in den USA zu der Erkenntnis, dass das Fehlen essenzieller Nahrungsbestandteile, später Vitamine genannt, schwere Krankheitszustände auslösen kann. Etwa 1910 begann deshalb eine intensive Suche nach diesen Wirkstoffen, die schließlich zur Isolation und Aufklärung der chemischen Struktur von Vitamin A , B1 (Jansen und Donath, 1926), B3 (Elvehjem, 1937), C (Szent-Györgi, 1932) und D (Windaus, 1926) führte. Damit war es möglich, den Vitaminmangelkrankheiten Beri-Beri, Pellagra, Skorbut und Rachitis sicher vorzubeugen.

Zusammenfassung

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die gesundheitlichen Wirkungen der Vitamine sowie die Bedingungen einer optimalen Zufuhr weltweit intensiv untersucht. In Deutschland erhielt diese Frage ab 1933 wegen der Kriegsvorbereitungen („Autarkie“) und der nationalsozialistischen, rassistischen Ideologie („Stärkung des Volkskörpers“) eine zusätzliche politische Motivation. Untersuchungen zum Vitamin A, in Deutschland durch Scheunert und Wagner, führten in Dänemark, Deutschland, Großbritannien und den USA zur Vitaminisierung von Margarine.

Die Versuche Scheunerts und Wagners an Häftlingen unterschieden sich deutlich von den im Nürnberger Ärzteprozess angeklagten Menschenversuchen, sind jedoch allein aufgrund der Haftbedingungen der Probanden als ethische Grenzüberschreitung zu werten. Der Vitamin-B-Bedarf wurde in den USA durch Melnick sehr genau bestimmt; zur Bedarfssicherung wurde in Deutschland der Verzehr von Vollkornbrot propagiert, in den angelsächsischen Ländern ein Vitaminzusatz zum Weißbrot eingeführt. Die meisten britischen und US-amerikanischen Untersucher fanden keine zusätzlichen Wirkungen einer Supplementierung mit Vitamin C.

In Deutschland setzte sich dagegen aufgrund sporadischer positiver Ergebnisse die Vorstellung durch, dass durch Erhöhung der Vitamin-C-Aufnahme Infekten vorgebeugt werden könnte; deshalb wurde mit einer Supplementierung während der Wintermonate begonnen. Eine weitere deutsche Besonderheit war die Aktivität und Sichtbarkeit von Vertretern einer alternativen „biologisch-natürlichen“ Sichtweise („Neue Deutsche Heilkunde“), die synthetisch hergestellte Wirkstoffe ablehnten.

Letztlich bestimmten aber naturwissenschaftlich ausgerichtete Vitaminforscher wie Carl Arthur Scheunert die Grundlagen gesundheitspolitischen Handelns. Dies hat nicht verhindert, dass sich bis heute die irrige Vorstellung vom gesundheitlichen Nutzen der Vitamin-C-Supplemente findet, die zweifellos Wurzeln in den „Vitaminaktionen“ des nationalsozialistischen Deutschland hat.

Schlüsselwörter: Vitaminforschung, Nationalsozialismus, Ethik, Supplementierung

Die Literatur zu diesem Artikel finden Sie unter
www.ernaehrungs-umschau.de/service/literaturverzeichnisse/

Den vollständigen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 03/14 von Seite M147 bis M153.

*Dieser Beitrag basiert in Teilen auf der Publikation:Joost HG (2012) Carl Arthur Scheunerts Ernährungsversuche am Menschen 1938–1943: Grenzüberschreitungen eines Wissenschaftlers im Nationalsozialismus. Medizinhistorisches Journal 47: 296–334

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