Unser tägliches Brot gib uns heute – aber bitte ohne Gluten

Den rund 7,5 Mrd. Menschen steht mit mehr als 50 000 essbaren Pflanzen ein umfangreiches Füllhorn potenzieller Lebensmittel zur Verfügung, aber nur einige 100 tragen in signifikantem Umfang zur Energie- und Nährstoffversorgung bei. Und nur drei von ihnen – Mais, Reis, Weizen – liefern immerhin 60 % (!) der weltweit produzierten Nahrungsenergie. Auch von der mehr als 10 000 Arten umfassenden Pflanzenfamilie der Süßgräser (Gramineae) wurden in den letzten 2 000 Jahren nur wenig mehr als eine Handvoll Getreidearten kultiviert und sind somit von (über-)lebenswichtiger Bedeutung für die Menschheit geworden. Von alters her haben Ackerbau, Getreide und Brot auch einen festen Platz in Mythologie und Religion und mit Demeter (Griechen), Ceres (Römer) und Freya (Germanen) eigene Gottheiten. Auch findet sich in dem am weitesten verbreiteten Gebet des Christentums eine Zeile zu Brot (erster Teil der Überschrift dieses Editorials).

In Europa und Nordamerika ist Weizen (Triticum) – nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Erträge, seiner besonderen technologischen Eigenschaften (Klebereiweiß = Weizengluten) und den daraus resultierenden Backeigenschaften – die dominierende Getreideart geworden. Allerdings löst der Verzehr von Weizen und anderen glutenhaltigen Getreidearten bei einem kleinen Teil der Bevölkerung Zöliakie, Weizenallergie oder Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS) aus. Beim gegenwärtigen „Frei-von-Gluten-Hype“ wird leicht übersehen, dass (Vollkorn-)Weizenprodukte für uns wichtige Energie-, Protein- und Ballaststoffquellen darstellen, die von der überwiegenden Mehrheit (90–95 %) gut vertragen werden. Katharina Anne Scherf und Peter Köhler beschreiben tiefgehend die verschiedenen lebensmittel- und ernährungsmedizinischen Aspekte ( S. M458–M467).

Durch züchterische Maßnahmen wurden besonders bei Hartweizen (T. durum) und Weichweizen (T. aestivum) die Erträge und Resistenzen gegenüber Schädlingen und Trockenheit gesteigert sowie die Backeigenschaften kontinuierlich verbessert. Wenn sich in weiteren Untersuchungen herausstellen sollte, dass eine NCGS durch züchterisch bedingte höhere Gehalte an Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs) oder andere Proteinveränderungen ausgelöst werden kann, ist es Aufgabe der Züchtung, dies schnellstmöglich zu beheben. Alte Weizenarten wie das diploide Einkorn (T. monococcum) und der tetraploide Emmer (T. dicoccum) wurden züchterisch lange Zeit vernachlässigt und werden gerade neu entdeckt ( S. S29–S32).

Studien zu Verbreitung und Ursachen einer NCGS gestalten sich als schwierig und entsprechend uneinheitlich ist die Datenlage. Vor dem Hintergrund eines starken Interesses von Herstellern, den potenziellen Kundenkreis von glutenfreien Lebensmitteln über Zöliakiepatienten und Weizenallergiker auf die zahlenmäßig viel größere Gruppe mit echter und vermeintlicher NCGS auszudehnen, bedürfen diesbezügliche Studien einer besonders sorgfältigen Bewertung. In einem Kommentar analysiert Imke Reese sehr kritisch eine aktuelle Studie von Elliet al. aus Italien, einem Land, in dem Zöliakiepatienten glutenfreie Produkte auf Rezept erhalten (S. M468–M469).

Nur bei einer ärztlich diagnostizierten Unverträglichkeit gegenüber Weizen oder Gluten ist eine entsprechend „freie“ Diät zwingend erforderlich. Ansonsten hat der Verzicht für gesunde Personen keine Vorteile – im Gegenteil: Die Ernährung wird schnell einseitiger, ballaststoffärmer und die Ersatzprodukte haben mitunter einen erhöhten Zucker- und Fettgehalt.

Ihr Helmut Heseker


Das Editorial finden Sie auch in Ernährungs Umschau 08/16 auf Seite M437.

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