Spannungsfeld zwischen medizinischem Bedarf und Ernährungstrends: Lebensmittel für Menschen mit besonderen Ernährungsbedürfnissen

(umk) Was 1981 als Versorgungslösung eines Nischenmarktes begann ist heute ein Weltunternehmen mit 335 Mio. € Jahresumsatz (2016) und über 1 200 Mitarbeitern. Zur Einweihung des neuen Headquarters von Dr. Schär am Firmensitz Burgstall in Tirol lud das Unternehmen Ende Mai Pressevertreter, Ernährungsmediziner und -therapeuten sowie Beratungsfachkräfte ein. Sie hatten die Möglichkeit, sich in Vorträgen, einer Round-Table- Diskussion, bei Verkostungen und im persönlichen Gespräch mit den Mitarbeitern des Unternehmens an Infoständen im neuen Gebäude über Forschung und Produktentwicklung für Menschen mit besonderen Ernährungsbedürfnissen zu informieren.

Project Re-Cereal

Die Produktion glutenfreier Lebensmittel ist auf Rohstoffe in ausreichender Menge und verlässlicher Qualität angewiesen. Bisher werden Buchweizen und Sorghum-Hirse (Millet) hierfür vorwiegend aus Asien importiert. Eduard BERNHART, Agricultural Projects Manager bei Dr. Schär, stellte vor diesem Hintergrund das „Project Re-Cereal“ vor. Re-Cereal wird im Rahmen des Interreg-Programmes der Grenzregion Italien-Österreich (-> www.interreg.net/de/) vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gefördert. Ziel ist die bessere Charakterisierung von Zuchtlinien der glutenfreien (Pseudo-)Zerealien Buchweizen, Hirse und Hafer. Das für den Zeitraum 2014–2020 angesetzte Projekt stellt sich dabei unterschiedlichen Aufgaben entlang der Wertschöpfungskette: dem Auffinden und der Charakterisierung sortenreiner Saatgutlinien bis hin zur (Wieder-)Erlangung ackerbaulicher Erfahrung für Anbau und Verarbeitung dieser Pflanzen. Positiver ökologischer Nebeneffekt könnte die Ausweitung der Fruchtfolge auf den neuen Anbauflächen sein.
Erste Ergebnisse sollen ab Mitte 2017 auf einer eigenen Website verfügbar sein.

Weitere Forschungsprojekte

Gluten ist aufgrund seiner lebensmitteltechnologischen Besonderheiten1 nicht leicht zu ersetzen. Die Suche nach Gluten-Ersatzstoffen aus Mais, also einem Lebensmittel, das von Zöliakie-Betroffenen vertragen wird, wird daher intensiv betrieben. Ein spezielles Extraktionsverfahren des Speicherproteins Zein aus weißem Mais und weiterer Gluteline (Proteinen, die für die Quervernetzung bei der Teigbereitung wichtig sind) wurde vorgestellt. Die Extrakte sind Grundlage neuer Rezepturen glutenfreier Teig- und Backwaren.

Roundtable-Diskussion: Ernährung als multidimensionales Spannungsfeld

Entsprechend seiner offenen Architektur soll das neue Headquarter auch offen für neue Themen und Gesprächsformate im Umfeld der Ernährung sein. Trendforscherin Hanni RÜTZLER, der Gastrosoph Prof. Harald LEMKE (Salzburg), die Münchner Künstlerin Ilana LEWITAN (selbst von Glutenintoleranz betroffen), der Stoffwechselmediziner Prof. Thorsten MARQUARDT (Uniklinik Münster), der Psychologe Dr. Peter BURGARD (Heidelberg) sowie der Gastroenterologe Prof. Martin STORR (Starnberg) diskutierten die Herausforderungen, mit denen Patienten mit Lebensmittelunverträglichkeiten oder besonderen Stoffwechselkrankheiten konfrontiert sind. Zu den Problemen gehören das „Nicht-ernst-genommen-werden“ in Zeiten der „free-from“-Trends ebenso wie der Zeitversatz zwischen Fehlernährung/Diätfehlern und den gesundheitlichen Folgen. Am Beispiel der Phenylketonurie (PKU) schilderten die Diskussionsteilnehmer, aber auch Praktiker aus dem Publikum, das nötige Ausmaß der Ernährungsdisziplin, verbunden mit der Hoffnung, dass durch neue Formulierungen/Rezepturen die nötigen Einschränkungen für die Patienten reduziert werden können.

Das Unternehmen Dr. Schär ist sich durchaus bewusst, dass ein Teil seines Markterfolges – nicht zuletzt in den USA – weniger vom medizinischen Bedarf als durch z. T. hinterfragbare Ernährungstrends („Dumm wie Brot“, „Weizenwampe“) getrieben wird. Dies wurde in der von Nikos CHARALAMPOPOULOS und Jacqueline PANTE, beide in der Unternehmenskommunikation von Dr. Schär, moderierten Diskussion auch angesprochen. Da solche Trends auch abebben können, wurde 2013 der Geschäftsbereich Medical Nutrition mit proteinarmen Produkten und definierten Aminosäurezusammensetzungen sowie MCT-Fetten etabliert. Diesen Umstand nutzte Prof. MARQUARDT zu einem Appell: Es gibt noch zahlreiche Stoffwechselerkrankungen, deren Betroffene auf die Entwicklung geeigneter und zugleich geschmacklich akzeptabler Lebensmittel warten.

Die Teilnahme an der Veranstaltung erfolgte auf Einladung der Dr. Schär AG.

1 => Siehe hierzu bspw. „Weizen und Gluten: Technologische und gesundheitliche Aspekte“ in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 8/2016



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 7/17 auf Seite M368.

Das könnte Sie interessieren
Medienumschau 4/2024 weiter
Social Media und der Einfluss auf die Gesundheitskompetenz weiter
Hochschule Osnabrück entwickelt Handlungsempfehlungen gegen Lebensmittelverschwendung weiter
Globale Ernährungswende würde Gewinne in Höhe von mehreren Billionen US-Dollar erzielen weiter
Wirkung von Ballaststoffen auf die Gewichtsreduktion weiter
Folsäure kann angeborene Fehlbildungen verhindern weiter