Bleib mir vom Acker!: Die Internationale Grüne Woche 2024 war die Politischste seit vielen Jahren

Bauernproteste und Bahnstreiks sind nicht alles. Die Internationale Grüne Woche (IGW) ist mehr. Seit 1926 hat sie schon viel überdauert: Vor- und Nachkriegszeit, Alliiertenplan zur Lebensmittelversorgung in den besetzten Zonen, die Fresswelle der 1970er, die friedliche Revolution im Osten, Trends über Trends in den 2010er Jahren. In diesem Jahr: die Existenzangst der kleinen und mittelständischen Betriebe der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft.

Zum einen sahen die Besucher*innen die Vielfalt des Marktes, die auch immer ein Kampf um Überraschungen, Geschmacks-Nuancen und Preise ist. In den Hallen gab es fast alles, was das kulinarische Herz begehrt. Morgens Hefezöpfe aus der Schaubäckerei (Halle 3.2), mittags Köstlichkeiten aus aller Welt auf dem Streetfood-Markt (Halle 1.2), zum Kaffee Pastel de Nata, kleine Küchlein aus Portugal (Halle 4.2), abends einen herzhaften Mungobohnen-Burger aus Schweden (Halle 8.2) und als Dessert süße und saftige Poffertjes (z. B. Halle 1.2). Snackige Informationen bekamen Besucher*innen den ganzen Tag beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Halle 23a), in der Halle 27 beim Bundesumweltministerium oder beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Halle 7.2c).
Zum anderen gab es die Veranstaltungen rund um den Erlebnisbauernhof und die Stände der Branchenverbände: Die Branchenvertreter und -vertreterinnen sparten schon im Vorfeld nicht an Kritik an der Bundesregierung und thematisierten Existenzangst aufgrund der bedrohten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Agrarund Ernährungswirtschaft im europäischen Vergleich. Die politische Abgrenzung der Branche gegen rechtsextreme Propaganda war ein Novum auf der IGW: „Landwirtschaft ist bunt – nicht braun!“.
Die im Rahmen der Startup-Days eingereichten Innovationen einte das gleiche Ziel – eine nachhaltigere Zukunft ( www.gruenewoche.de/en/events/startup-days/). Hier war zwar Sinnvolles, aber keine wirklich neue Idee auffindbar.
Aber die Berliner und Berlinerinnen lieben ihre Grüne Woche. Sie strömen in die bunten Hallen und tragen Ergattertes in Trollys davon. Die meisten Besucher*innen haben einfachste Wünsche: Sensation, Geschmack, Preis. Ob sie die wichtigen Zukunftsthemen der anderen Hallen mit nach Hause nehmen, bleibt fraglich.
Die Messe bewies das weltweite Streben der Agrar- und Ernährungsbranche nach den vier Verträglichkeiten: Gesundheit, Ökologie, Soziales und wirtschaftliche Existenz. Es mangelte auf der IGW auch nicht an Strategien, Szenarien und Fakten. Dennoch offenbarte das Davos der deutschen Agrar- und Lebensmittelwirtschaft seinen größten Webfehler: Ratgebende und Ratnehmende fanden sich im Messe-Getummel nicht. Sie blieben sich buchstäblich gegenseitig vom Acker.

Dr. Karin Bergmann



Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 3/2024 auf Seite M129.

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