Kongress Ernährung 2018: Kasseler Erklärung – Fachgesellschaften fordern politische Anerkennung professioneller Ernährungsinterventionen

„Ernährungstherapie muss zur definierten Leistung der gesetzlichen Krankenversicherungen werden!“ Dies ist nur eine der Forderungen der „Kasseler Erklärung“, die die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), der VDOE und der Bundesverband deutscher Ernährungsmediziner (BDEM) auf der „Ernährung 2018“ Ende Juni in Kassel unterzeichneten. Mit über 1 700 Teilnehmern waren die zahlreichen Parallelsessions und die begleitende Industrieausstellung sehr gut besucht.

Potenzial von Ernährung

Für die DGEM beschrieb Prof. Christian Löser, Medizinische Klinik der DRK-Klinik Kassel, einen Paradigmenwechsel: Sah man früher die Ernährung als – notwendigerweise zu erfüllendes – Grundbedürfnis der Patienten, so steht zunehmend ihr therapeutisches Potenzial im Vordergrund. „Ernährungsmediziner müssen selbstbewusster nach außen treten, denn Ernährung kann wie ein Medikament wirken!“

Krankheitswert der Adipositas

Für den BDEM hob Prof. Johannes Georg Wechsler den eigenständigen Krankheitswert der Adipositas hervor und bemängelte, dass es im Gegensatz zu anderen chronischen Krankheiten derzeit keine etablierten (und kassenfinanzierten) langfristigen Therapiekonzepte bei Adipositas gäbe. Im Gegenteil, noch würden lediglich die Folgeerkrankungen der Adipositas – Hyperlipidämie, Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2 sowie orthopädische Beeinträchtigungen – mit hohen Kosten therapiert.

Krebs und Ernährung

Sowohl Adipositas als auch Mangelernährung sind Ernährungsprobleme, mit denen in besonderem Maße Onkologen konfrontiert sind: Mindestens 13 Tumortypen werden durch Adipositas gefördert. Ursachen hierfür sind u. a. die mit Adipositas einhergehende chronische Entzündung, aber auch Veränderungen im Hormonhaushalt, v. a. der Sexualhormone. Prof. Hartmut Bertz machte als Onkologe und Sektionsleiter Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Freiburg jedoch auch deutlich, dass Adipositas für längere Zeit eine tumorbedingte Mangelernährung kaschieren kann.

Oft begrüßen die Patienten zunächst einen Gewichtsverlust, bevor dann eine Tumordiagnose als Ursache diagnostiziert wird. Die Bekämpfung der Mangelernährung ist dann sowohl im Umfeld chirurgischer Eingriffe, aber auch in der langfristigen Nachsorge ein für die Prognose und Lebensqualität der Patienten entscheidender Faktor. Hierzu passend wies Prof. Arved Weimann, Leipzig, in seinem Plenarvortrag darauf hin, dass das rund 4-wöchige Zeitfenster zwischen neoadjuvanter Therapie und chirurgischem Eingriff bei Onkologie-Patienten noch zu selten zur Optimierung des Ernährungsstatus vor der OP genutzt wird, mit negativen Folgen für die anschließende Rekonvaleszenz.

Zentrale Bedeutung der Ernährungsfachkräfte

Nicht zuletzt hier kommt dann das Zusammenspiel mit qualifizierten Ernährungsfachkräften im Ernährungsteam einer Klinik, aber auch in der ambulanten Versorgung zum Tragen. In diesem Zusammenhang forderte Ingrid Acker für den VDOE die strukturelle Verankerung der Ernährungstherapie in der Patientenversorgung und distanzierte sich nochmals deutlich von politischen Vorschlägen, die Ernährungsberatung quasi als Anlerntätigkeit darstellen ( -> Ernährungs Umschau 5/2018, S. M292).

Ernährung als Lernziel verankern

Prof. Johann Ockenga, Präsident der DGEM, ging darauf ein, dass der Lernzielkatalog Medizin das Thema Ernährung zukünftig stärker berücksichtigen soll. Aber auch in der Ausbildung der nichtärztlichen Berufe, z. B. Pflege, Physiotherapie, Hebammen, Logopädie, müsse der Stellenwert von Ernährung stärker betont werden. Ein wichtiger Schritt sei die auf dem Ärztetag in Erfurt auf den Weg gebrachte Zusatz-Weiterbildung Ernährungsmedizin ( Ernährungs Umschau 6/2018: S. M304). Er sieht jedoch auch die Politik in der Pflicht: So könne durch entsprechende Richtlinien die ernährungstherapeutische Patientenversorgung und das Überleitungsmanagement als Schnittstelle zwischen Krankenhaus und ambulanter Betreuung bzw. Hausärzten deutlich verbessert werden.

Eigentlich ist es ein Ritual der jährlichen Dreiländertagung von DGEM, BDEM und VDOE: Vorgestellt werden die Bedeutung und zunehmende Evidenz für den Nutzen einer adäquaten Ernährungstherapie in der stationären und ambulanten Versorgung, auch Kostenrechnungen, die jeden Verwaltungschef einer Klinik und Politiker überzeugen müssten. Zugleich wird aber die mangelnde Implementierung von Ernährungs-Assessments oder gar des Bewusstseins für Ernährung als therapeutische Option im Medizinbetrieb beklagt. Und doch bewegt sich etwas: Nachdem die Ärzteschaft nun die Zusatz-Weiterbildung Ernährungsmedizin beschlossen hat, soll durch die Kasseler Erklärung der Ernährung endlich der Raum im Medizinbetrieb bereitet werden, der ihr aufgrund ihres präventiven und therapeutischen Potenzials zusteht.

Das geht nicht ohne Gerangel um Deutungshoheiten und Zuständigkeiten (Berufsverbände und Fachgesellschaften) und Verteilungskämpfe (viele im medizinischen System verdienen an Krankheit und der Therapie von Symptomen bzw. Folgeerkrankungen, nicht an Prävention und Gesundheit). Die Kasseler Erklärung ist sicher zunächst nur ein symbolischer Akt. Wenn sie aber mit Leben gefüllt wird und wirklich alle beteiligten Fachkräfte mitnimmt, also v. a. auch die DiätassistentInnen, bietet Sie die Chance, dass es auf diesem wichtigen Gebiet endlich weitergeht. Dies wird mit Tagessätzen von 3,80 € für Krankenhausverpflegung nicht leistbar sein und so sollten die beliebten Klinik-Rankings neben der High-End-Gerätemedizin auch die Qualität ernährungstherapeutischer Leistungen und die Lebensqualität der Patienten nach stationären Eingriffen in den Fokus rücken.


Dr. Udo Maid-Kohnert, Pohlheim



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 7/2018 auf Seite M362.

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