Qualitative Interviewstudie: Ungesundes zu essen ist auch eine Form von Glück

„Das Lachen, das man innerlich dabei hat, macht einen glücklich.“ – diese Aussage einer Interviewpartnerin zum Thema, etwas Ungesundes zu essen, veranschaulicht das Konfliktpotenzial von Ernährungsentscheidungen. Deren Hintergründe wollten Müller et al. in einer qualitativen Interviewstudie, kürzlich veröffentlicht in Prävention und Gesundheitsförderung, näher beleuchten [1].

In Bezug auf vorhandenes Ernährungswissen erbrachten die leitfadengestützten offenen Interviews mit 20 Teilnehmenden (32–60 Jahre, 10 Frauen, 10 Männer), dass diese über sog. „Kernbotschaften“ wie „wenig Fleisch“, „viel Obst und Gemüse“, „Fett, Zucker und Salz sparsam verwenden“ gut informiert waren. Gleichwohl wurden auch viele weitere Aspekte „gesunder“ Ernährung genannt, die eher zweifelhaften Quellen entstammen, wie z. B. dass gekochtes Gemüse „tot“ sei oder Obst am Abend im Magen gäre.

Ein zweiter Schwerpunkt der Befragung lag auf den Faktoren, die tägliche Essentscheidungen beeinflussen. Hier zeigte sich eine Reihe von bereits mehr oder auch noch weniger bekannten Faktoren. Einfluss haben bei den Befragten demnach v. a.:

• Alltagsfaktoren – dazu gehören z. B. Arbeitsbedingungen und -zeiten, biografische Veränderungen wie die Geburt eines Kindes sowie begrenzte finanzielle Ressourcen, die hochpreisige Lebensmittel für den Dauergebrauch unattraktiv machen
• das Geschlecht: „Ich sag‘ mal gleich vorweg das Thema Obst und Gemüse ist ‘n reines Thema von meiner Freundin.“ (Zitat Studienteilnehmer)
• soziale Funktionen wie Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung
• Problemlösungsstrategien wie „Stress-Essen“
• weitere mit dem Gesundheitsmotiv konkurrierende Motive wie Fürsorge, Genuss, Geselligkeit, Spontaneität etc.

Diese von den Interviewten genannten Faktoren geben Gesundheitskampagnen und Ernährungsempfehlungen der Zukunft den Autorinnen zufolge klare Aufgaben: Die Kernbotschaften „gesunder“ (oder vollwertiger) Ernährung sind in der Bevölkerung angekommen, werfen aber für die einzelne Person im Alltag komplexere Fragen und Probleme der Umsetzung vor dem Hintergrund des eigenen Arbeitsalltags, sozialer und kultureller Gepflogenheiten, der eigenen Geschlechtszugehörigkeit und weiterer, situativer Faktoren auf. Die Interviews machten laut Müller „deutlich, dass ‚gesunde‘ Ernährung nicht an Unwillen oder Unwissen, sondern vielfach an konkreten Lebensumständen und Alltagshürden scheitert“, wie es schon in anderen Untersuchungen nachgewiesen worden sei. Geschlechterrollen bspw. könnten nicht ursächlich durch Ernährungsempfehlungen angegangen werden, das Wissen darum solle jedoch in die Formulierung von Empfehlungen einfließen, damit diese realistisch blieben. Gesundheitsmotive und hedonistische Bedürfnisse könnten sich entsprechen, sich aber auch situativ widersprechen. Die Autorinnen konstatieren, dass es falsch sei, daraus jedes Mal Handlungsbedarf abzuleiten, denn Gesundheit sei nicht „per se und allzeit das höher zu wertende Gut“. Veranschaulicht wird das auch durch ein Statement eines Befragten bezüglich einer von ihm betreuten Jugendfreizeit: „Die größeren Kinder aus den sozial schwächeren Gegenden, die haben ganz andere Probleme, in diesen sechs Stunden kannst du viel mehr erreichen bei den Kindern persönlich [bezieht sich auf Zeit für Gespräche mit den Jugendlichen], anstatt irgendwelche dussligen Spieße zu machen.“

Fazit der Autorinnen: Statt Kampagnen zu noch mehr Ernährungswissen seien umwelt- und gesundheitspolitische Entscheidungen zur Gestaltung einer gesundheitsförderlichen Umwelt und die Berücksichtigung der alltäglichen Lebenswelt und Selbstsicht der Verbraucher angezeigt. 



(scs) Die in der Studie herausgearbeiteten Faktoren sind, wie die Autorinnen selbst anführen, nicht unbedingt neu. Die aktuelle Studie und der so gelieferte wissenschaftliche Hintergrund rücken jedoch den notwendigen wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema wieder in den Vordergrund: Die immer besser aufbereiteten und wiederholten Empfehlungen zu empfohlenen und nicht empfohlenen Lebensmitteln haben Wirkung gezeigt. Jetzt ist es an der Zeit, den Menschen nicht immer wieder ihre „Non-Compliance“ vor Augen zu führen, sondern Alltagsbedingungen und menschliche Bedürfnisse ernst zu nehmen und ihnen zu helfen, eine persönlich passende Gewichtung von Gesundheitsfürsorge im Rahmen konkurrierender Lebensmotive zu finden.

Literatur: 1. Müller V, Schmacke N, Kolip P (2016) Das „innere Lachen“ oder der sich „rächende Körper“ – wer gewinnt bei der Nahrungsmittelwahl? Eine qualitative Studie zur Entscheidungsfindung in Ernährungsfragen. Präv Gesundheitsf 11(2) 126–132



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 07/15 auf Seite M379.

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