„Bildungsort Esstisch!“: Ernährungsbildung – Hand in Hand mit dem Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan

Gemeinsame Mahlzeiten mit Kindern im Rahmen der Kindertagespflege bieten vielerlei Raum zur Ernährungsbildung, aber auch zur Förderung persönlicher Kompetenzen wie Autonomie und Selbstbewusstsein. Diesen konzeptionell zu nutzen und Kinder mehr als nur zu „verpflegen“ war das Votum des Fachtags „Bildungsort Esstisch“ am 10.12.2015 in Wetzlar. Eingeladen hatten die Verbraucherzentrale Hessen e. V. in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) als Verantwortliche für den Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan (HBEP) sowie das Hessische Kinder- TagespflegeBüro. Rund 80 Fachberatungs- und Fortbildungskräfte der Kindertagespflege, Erzieherinnen und Interessierte kamen der Einladung nach und erlebten einen lebhaften und informativen Tag.

In den Grußworten der Veranstalter wurde sofort klar, dass diese in ihrer Kooperation ganzheitlich und vernetzt denken. Heike Hofmann-Salzer, Referentin im HMSI und maßgeblich am aktuellen Bildungsund Erziehungsplan für Hessen beteiligt, betonte: „Ernährungsbildung und der Hessische Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0–10 Jahren sind zwei Seiten einer Medaille, die untrennbar verbunden sind.“ Sie führte aus, dass Kinder beim Essen lernen, durch Ernährung ihre Bedürfnisse zu stillen, dass sie ganz im Sinne des HBEP gleichzeitig aber auch Autonomie und Selbstwirksamkeit sowie „ganz schmackhaft“ kulturelle Vielfalt erleben. Im HBEP wiederum sei die Kindertagespflege, d. h. die Betreuung der unter Dreijährigen, als bedeutsamer und den späteren Bildungsinstitutionen gleichrangiger (!) Bildungsort verankert. Das Qualifizierungskonzept für Tagespflegepersonen, welches in Hessen im Jahr 2015 von über 30 000 Teilnehmer/- innen durchlaufen wurde, sei dementsprechend am HBEP ausgerichtet.

Aus Sicht des Hessischen KinderTagespflegeBüros ergänzte Leiterin Ursula Diez-König, dass Ernährungswissen unbedingt zur Qualifizierung von Tagespflegepersonen dazugehöre, da in der Kindertagespflege neben dem Elternhaus Grundlagen für Ernährungsverhalten gelegt würden. Die Verbraucherzentrale schließlich betrachtet, so formulierte Andrea Schauff es, Essen als Teil der Gesundheitsvorsorge und des Verbraucherschutzes und engagiert sich deshalb mit ihrem Konzept „Bildungsort Esstisch“ ebenfalls zu diesem Thema.

Prof. i.R. Dr. Barbara metHfessel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg machte in ihrem Vortrag allen Teilnehmenden sehr anschaulich deutlich: Kinder erleben Essen anders. Das Essenlernen erfolge wie das Bewegungslernen schrittweise und mit allen Sinnen einzeln. Dort stehe auch am Anfang das Krabbeln, dann komme Laufen und nicht gleich Ski fahren. Neuen Speisen gegenüber seien Kinder – biologisch begründet – unsicher und manchmal ablehnend. Sie brauchten Sicherheit, dass neues Essen „gut“ ist, z. B. dadurch, dass Erwachsene mitäßen, sich positiv und „wohlig“ dazu äußerten – oder indem gerade anfangs sog. „Ankerlebensmittel“, welche die Kinder von zuhause kennen, angeboten würden. Die Speisenplanung solle sich daher in einem Wechselspiel zwischen Abwechslung und Wiederholung bewegen.

Essen betrifft Methfessel zufolge alle vier Grundbedürfnisse des Menschen: physiologische Bedürfnisse, das Bedürfnis nach Kompetenzerfahrung und Selbstwirksamkeit, nach Autonomie und Selbstbestimmung sowie nach sozialer Eingebundenheit und Zugehörigkeit. Alle diese Lernerfahrungen müssten beim gemeinsamen Essen in der Tagespflege bzw. Kita berücksichtigt werden. Das Kind wachse hinein in eine bestimmte Esskultur (Zugehörigkeit) mit Mahlzeitenriten, Symbolen und Speisenauswahl. Es stärke durch eigene Entscheidungen bei der Auswahl der Speisen (aus einem sinnvollen Angebot!) seine Autonomie und erwerbe Kompetenzen beim Essen und im Idealfall Zubereiten von Speisen. Jeder Esstisch sei ein Mikrokosmos aus Macht und Liebe, Abhängigkeit und Autonomie, Erziehung, Traditionen, Integration und Abgrenzung und vielem mehr. Dies müsse allen Erziehenden und Tagespflegepersonen bewusst sein.

Die Teilnehmenden der vier Workshops, angeleitet von je einer Ernährungsfachkraft der Verbraucherzentrale Hessen und einer Multiplikatorin des BEP, waren sich nach Abschluss der Workshops einig: Nur eine große Offenheit gegenüber Kindern und ihrem unterschiedlichen Verhalten am Esstisch kann Bildungsanlässe möglich machen. Jeder Mensch – sowohl die eigene Person als auch das Kind – bringt seine eigene Essbiografie mit, die von Zeitgeist, familiärer Esskultur und Esserfahrungen, z. T. in anderen Ländern, geprägt ist. Der Entwicklungsstand jedes Kindes bedingt anstehende Entwicklungsaufgaben, die das Essverhalten ebenfalls prägen und berücksichtigt werden müssen. Und schließlich sind all diese Aufgaben am besten im Team gemeinsam und in Kooperation mit den Eltern zu leisten.

Das Fazit der Kooperationspartner am Ende des Fachtags: Eine Fortsetzung der guten, konstruktiven Zusammenarbeit sei sehr erwünscht. Die alltagstaugliche Verknüpfung von Themen der Ernährungsbildung mit Inhalten des BEP sollte zukünftig einen festen Bestandteil in der Fortbildung für Fachpersonal aus Tagespflege und Kitas bilden.

Einen ausführlichen Bericht zum Fachtag finden Interessierte auf der Internetseite der Verbraucherzentrale Hessen: => www.verbraucher.de 



Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 02/16 auf den Seiten M74-M75.

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