Beratungspraxis: Theaterpädagogisch gestützte Ernährungsberatung – ein innovativer Ansatz

Theater in der Ernährungsberatung – nur eine neue, ausgefallene Idee unter vielen anderen? Nein, konstatiert Dr. Stephanie Hoy, Justus-Liebig-Universität Gießen, denn die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und darüber mit dem eigenen Ernährungsverhalten ist zentral für den Erfolg von Ernährungsberatung. Und Körperarbeit lässt sich theaterpädagogisch gut unterstützen, erläuterte Hoy in einem Vortrag bei der diesjährigen UGB-Tagung (=> Bericht ab S. M326 in diesem Heft).

Aufgabe des/der Ernährungsberaters/in ist es, die Diskrepanz zwischen Ernährungswissen des Klienten und täglichem Ernährungshandeln zu überwinden. Dazu praktizieren viele Beraterinnen und Berater ihren Beruf jedoch in einer relativ körperlosen Art und Weise, denn sie sitzen viel und bewegen sich kaum. In den meisten Fällen bleibt Beratung nach wie vor auf das Gespräch beschränkt [1]. Eine solche überwiegend kognitive Ansprache vernachlässigt zu häufig nicht nur die Rolle der Emotionen, sondern v. a. die des Körpers. Es ist daher wünschenswert, dem Klienten durch eine intensive Körperarbeit und emotionale Aktivierung die Möglichkeit zu geben, den eigenen Körper mit seinen Fähigkeiten, Ressourcen und Einschränkungen, den damit verbundenen Emotionen und den daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten kennen und nutzen zu lernen. Wird ein Klient auf diese Weise ganzheitlich angesprochen, kann er/sie fehlerhaftes Essverhalten reflektieren, im Schutzraum „Theater“ Lösungsansätze praktisch und sanktionsfrei erproben und gefundene Lösungen in die Realität transferieren. Dabei ist der Körper entscheidend, denn er drückt innere Vorgänge aus und artikuliert verbale und nonverbale Vorstellungen [2]. Über den Körper können somit innere Barrieren und Widerstände verbildlicht und schwer zu Verbalisierendes gezeigt werden.

Die Methodik der Theaterpädagogik bietet damit einen Erkenntniszugang, der über die Ratio hinausgeht. Durch sie werden sowohl der Körper als auch das emotionale Erleben der Zielgruppe während der Verhaltensänderung in den Vordergrund gestellt. Methoden des kreativen Schreibens dienen u. a. dazu, die eigene Essbiografie kritisch zu reflektieren. Während der Übung „Raumlauf Hungerzustände“ sammeln die Klienten Erfahrungen über das eigene Körpergefühl im Zustand des Satt- oder Hungrig-Seins und erfahren, welche positiven und negativen Gefühle damit verbunden sind. Durch „Theatermaschinen“ werden falsche Versprechungen und Verlockungen der Lebensmittelindustrie sichtbar und abwehrbar. Methoden des Forumtheaters1 ermöglichen zudem, ungünstige, reale Esssituationen zunächst als Standbild sichtbar zu machen und gemeinsam in der Gruppe durch „Handeln auf Probe“ zu einem günstigeren Umgang damit zu gelangen. Und auch in weniger partizipativ ausgerichteten Maßnahmen, wie bspw. im Rahmen einer Veranstaltung der betrieblichen Gesundheitsförderung, können solche Methoden gewinnbringend eingesetzt werden, indem z. B. der „Hunger“, die „Fettzelle“, die „Verlockung“ oder der eigene „innere Schweinehund“ personifiziert auftreten.

Über theaterpädagogische Spiele und Übungen kann z. B. übergewichtigen Klienten vermittelt werden, dass Bewegung Freude macht und nicht unbedingt mit Sport und dem damit verbundenen Leistungs- oder Erfolgsdruck zu tun haben muss. Darüber hinaus werden das Selbstbewusstsein und die Handlungskompetenz der Klienten gestärkt und somit die Möglichkeit geboten, Ungewohntes und Neues in Bezug auf das Thema gesunde Ernährung der körperlichen Erfahrung und der kognitiven Reflexion zugänglich zu machen. Verbindet man auf spielerische Weise kognitive Erkenntnisse und körperliche Erfahrungen noch mit emotionalen „Aha-Erlebnissen“, kann dies als Motor für die Veränderung ungünstiger Ernährungsgewohnheiten genutzt werden. Als Werkzeug hierfür dient die „Verfremdung“, welche im Sinne Brechts dem Vertrauten das Selbstverständliche und Bekannte nimmt und stattdessen Neugierde und Erstaunen erzeugt. Problemsituationen werden demzufolge sicht- und bearbeitbar, da die Verfremdung gezielt Emotionen freisetzt, die entweder über das Lachen und den Humor wirksam werden oder durch eine emotionale Betroffenheit den Willen zur Änderung von Verhalten stärken. Dadurch wird die Veränderbarkeit des eigenen Ernährungsalltags unmittelbar ersichtlich [3].

Die Anwendung solch vielfältiger theaterpädagogischer Methoden unterstützt die Klienten darin, ihre eigenen Vorstellungen für sich und Außenstehende sichtbar, mitteilbar und dadurch erlebbar und veränderbar zu machen [2]. Ein interessanter und innovativer Ansatz, den es weiter zu verfolgen gilt und der gerade in der Verbindung mit herkömmlichen Beratungsmethoden am gewinnbringendsten zum Einsatz kommt.

Kontaktadresse:
Dr. Stephanie Hoy
Universität Gießen
Professur für Kommunikation und Beratung in den Agrar-, Ernährungs- und Umweltwissenschaften
E-Mail: Stephanie.Hoy@ernaehrung.uni-giessen.de

Literatur:
1. McLeod J. Einführung in die Beratung. dgvt-Verlag Tübingen (2004)
2. Janssens L. Gib dem „Homo ludens“ lebenslänglich. In: Streisand M, Giese N, Kraus T, Ruping B (Hg). Talkin´bout my generation. Archäologie der Theaterpädagogik II. Konferenzband. Linger Beiträge zur Theaterpädagogik Band VI. Schibri-Verlag, Berlin/Milow/Strasburg (2007), S. 117–123
3. Knitsch N, Auge G. Die Kraft des Theaterspiels. Ein TAG-Theater Lesebuch. 2. erw. Aufl., Grundlagen und Praxis Wissenschaftlicher Autorenverlag Leer (2009)

1 Im Forumtheater wird eine reale Alltagssituation als Szene dargestellt, die schlecht und unbefriedigend endet. Die Zuschauenden werden daraufhin ermutigt, Lösungsvorschläge zu entwickeln und spielerisch zu erproben, die diese Szene zu einem wünschenswerten Ende bringen.


Den Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 06/16 auf Seite M323.

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