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Fleischlos glücklich: Eine ungemütliche Weihnachtsgeschichte

  • 22.12.2020
  • News
  • Dr. Sabine Schmidt

„Ist das nicht zu hart, zu tendenziös, zu radikal? Gerade dieses Jahr, an Weihnachten?“ diskutierten wir in der (überwiegend flexitarischen) Redaktion und platzierten diesen Text kurzerhand nur für unsere online-LeserInnen und Social-Media-Follower statt in die Dezemberausgabe der Ernährungs Umschau. Ich persönlich finde dieses gebeutelte Jahr 2020 genau die richtige Zeit für radikale Visionen. Das folgende Zukunftsszenario ist unter vielen möglichen vielleicht nicht das Schlechteste und daher irgendwie eben doch eine Art Weihnachtsgeschichte – aber Vorsicht: tendenziös, und ohne Kuschelfaktor.

„Mama, was ist ‚Schinken‘?“ fragt die 6-Jährige beim Weihnachtsessen. „Dora meinte, in ihrer Familie hätte es früher an Weihnachten ‚kalten Schinken‘ gegeben.“ Die Mutter: „Schinken ist geräuchertes Fleisch. Das hat man früher auf Brot gegessen.“ „Was meinst du mit ‚Fleisch‘, Mama?“ „Na, früher aß man doch das Fleisch, also, hm, die Muskeln von Tieren, z. B. von Schweinen oder Hühnern.“ Die Tochter hört auf zu essen. „Und wie hat man das bekommen? Man kann doch kein Stück vom Tier abschneiden.“ „Die Tiere wurden getötet und in verschiedene Teile zerlegt. Schinken stammte z. B. aus dem Po der Schweine“, schaltet sich der Vater ein.
Ein würgendes Geräusch, das Mädchen spuckt das gerade in den Mund Geschobene wieder aus. „Man hat Schweine umgebracht?“ fragt sie mit bestürztem Gesicht. „So wie Porgi und Bess, die Zwergschweinchen von Lissi? Du lügst doch!“ „Nein“, wehrt sich der Vater, „sie wurden in riesigen Hallen gehalten, meist ganz eng, sie bekamen so viel Futter, dass sie ganz schnell dick wurden, dann wurden sie tagelang in stickigen Lastwagen zu einem Schlachtort gefahren und dort der Reihe nach getötet.“ Seine Tochter starrt ihn an. „… und Hühner wurden so gezüchtet, dass sie nach wenigen Wochen so viel zugenommen hatten, dass sie nur noch sitzen konnten, weil sie sonst umgefallen wären“, fährt er fort. „Am Schlachtort wurden sie zu Zehntausenden kopfüber an eine Leine gehängt und mit Stromschlag getötet. Das hat meist sofort geklappt, aber nicht immer.“
Das Mädchen wirft ihr Besteck auf den Tisch, fängt an zu weinen und flüchtet sich zu ihrer Mutter. „Noch früher“, ergänzt er, „steckte man sie ihr Leben lang in schuhkartongroße Käfige …“, weiter kommt er nicht. „Hör auf!“ ermahnt Mutter den Vater. „Du machst ihr Angst, sei doch nicht so unsensibel!“ „Aber stimmt doch“, mault dieser, „das sollte sie doch wissen.“ Die Mutter streichelt ihre Tochter. „Schatz, das ist lange her. Damals waren die Menschen barbarisch zu Tieren, aber das ist jetzt nicht mehr so. Zumindest bei uns nicht.“
„Es gibt noch Gruppen, die heimlich Tiere schlachten und essen, schmecken tut das bestimmt …“ redet der Vater unbeeindruckt weiter. Damit handelt er sich einen strengen Blick seiner Frau und einen entsetzten seiner Tochter ein, die aufspringt, in den Garten läuft, ihr Huhn Hilde auf den Arm nimmt und schluchzend an sich drückt. „Früher hat man auch Gorillas und vorher sogar Menschen im Zoo in kleinen Käfigen gehalten…“ ruft er ihr noch nach, ergänzt dann aber gut gelaunt: „Schade, dass Opa das nicht gesehen hat. Er aß schon als junger Mann kein Fleisch mehr, als industrielle ‚Tierproduktion‘
1 noch gang und gäbe, die vegane Ernährung aber schon ein Trend unter den Jüngeren war. Die Kleine hätte ihn glücklich gemacht.“

Fröhliche Weihnachten – trotz schwieriger Umstände – vielleicht gerade dieses Jahr mit dem Wunsch nach einem friedlichen Umgang mit Mensch und Tier (z. B. in Form von Fleisch aus biologischer Tierhaltung zum Fest? oder einem leckeren vegetarischen Essen?) wünscht Ihnen
Ihre Sabine Schmidt


1Zum Weiterlesen z.B.: Theile M: Alles Lebendmasse. Die Sprache der Tiernutzung kaschiert die brutale Industrie dahinter - eine Wortkunde. DIE ZEIT Nr. 41/2020, 1. Oktober 2020.

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