Kommentar: Debatte um Ernährung und Klima im Deutschen Ärzteblatt

Es ist selten, dass wir seitens der ERNÄHRUNGS UMSCHAU Beiträge in anderen Fachzeitschriften nicht nur zusammenfassen und kommentieren, sondern klar kritisieren. Diesmal war es der Fall und die – vor allem in den sozialen Medien – aufgeregte Debatte ist wohl darin begründet, das in dem Anfang Juli erschienenen Artikel des Deutschen Ärzteblatts [1] nicht nur die Evidenz für Empfehlungen zu fleischärmerer Ernährung im Titel des Artikels negiert wird (auf dem Titel des Ärzteblatts ist schon vorsichtiger von „wenig Evidenz“ die Rede). Es wurde vielmehr kritisiert, dass Ernährungsempfehlungen für die Allgemeinbevölkerung auf Forschungsansätzen beruhen, die „regelhaft“ schwache oder sehr schwache Evidenz liefern.

Auf die ebenfalls im Beitrag geäußerte Kritik an der Methodik der Ernährungsepidemiologie hatte die Physicians Association for Nutrition (PAN) unmittelbar mit einer Stellungnahme reagiert [2], die mittlerweile eine große Zahl von UnterzeichnerInnen gefunden hat. Anlass für den Kommentar der ERNÄHRUNGS UMSCHAU [3] war jedoch nicht zuletzt der unsachliche Stil des Ärzteblatt-Artikels, der zudem Lösungsansätze zum Aspekt Klimarelevanz unserer Ernährung vermissen ließ.

Herausforderungen annehmen

Der notwendigen Debatte um Empfehlungen zu gesundheitsförderlicher Ernährung und zu den ökologischen Auswirkungen verschiedener Ernährungsweisen ist aber wenig gedient, wenn es zur Lagerbildung kommt, die DiskutantInnen ihre jeweiligen AnhängerInnen mobilisieren und sich jeweils passende Literatur bzw. Auszüge daraus „um die Ohren schlagen“. Der Debatte ist auch nicht gedient, wenn randomisierte kontrollierte Interventionsstudien zum alleinigen Werkzeug der Evidenz-Schaffung für wissenschaftliche Aussagen stilisiert werden.

Im Falle der Ernährung überlagern sich in komplexer Weise physikalische, biochemische, genetische, soziokulturelle, ökologische und andere Faktoren und treten miteinander in Wechselwirkung. Viele Faktoren sind nicht unabhängig voneinander variabel (z. B. Fett/Protein/Kohlenhydratverhältnis bei isokalorischer Kost). Zugleich sind diese Faktoren über lange Zeiträume wirksam. In welchem Ausmaß es hierbei zu gegenseitiger Auslöschung oder Verstärkung kommt, verstehen wir erst ansatzweise (z. B. Epigenetik oder Mikrobiom!). Diese Situation ist den meisten DiskutantInnen in der Debatte bekannt. Auch für viele medizinische Fragestellungen trifft diese Situation zu. Was den einen jedoch Ansporn zur Verfeinerung der methodischen Ansätze ist [z. B. Systembiologie], ist den anderen das ultimative Totschlag-Argument: „Ernährungsforschung liefert keine belastbaren Daten.“

Das ist so, als würde die Meteorologie vor der Komplexität des Wettergeschehens kapitulieren, als dürfe die Klimaforschung keine Empfehlungen zur Umweltpolitik geben, weil hier keine globalen verblindeten Experimente möglich sind. Allerdings muss sich die Ernährungsforschung der Kritik stellen und darf sich nicht hinter methodischen Problemen verstecken. Wie jede Disziplin muss sie ihre Methodik regelmäßig überprüfen und verfeinern. Was auch geschieht [4, 5]. Ernährungsempfehlungen herzuleiten (und nachvollziehbar zu begründen), welche die Gesundheitsrisiken der Menschen reduzieren und dabei zugleich die Zukunftsfähigkeit/Nachhaltigkeit des Ernährungssystems für eine noch wachsende Weltbevölkerung nicht aus dem Blick verlieren, bleibt eine Herausforderung. Im Idealfall sollen beide „Endpunkte“ zusammen optimiert werden. Wobei Nachhaltigkeit die Möglichkeit zur Teilhabe aller soziokulturellen Schichten an gesundheitsförderlichen Ernährungsweisen einschließt. Ernährungsweisen, die bereits bei einfacher Dreisatzrechnung (Menge der weltweiten Produktion eines Lebensmittels [z. B. tierisches Protein] geteilt durch Bevölkerungszahl) dieses Kriterium nicht erfüllen, sind von daher problematisch.

Gesundheitsberufe sollten an einem Strang ziehen
© Peshkova/iStock/Getty Images Plus
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Ein sich in methodologischen Fragen verbeißender Streit zwischen medizinischen und ernährungsforschenden Disziplinen und Pauschalschelte für Ernährungsempfehlungen und -Institutionen wird der gesellschaftlichen Herausforderung nicht gerecht. Wir werden damit leben müssen, zu vielen Fragen des Lebens die aktuell beste verfügbare, nicht die theoretisch beste denkbare Evidenz als Grundlage von Entscheidungen zu nutzen.

Das Deutsche Ärzteblatt hat erfreulicherweise Mitte August in Ausgabe 33/34 dem Zusammenhang von Klimawandel und Gesundheit einen Schwerpunkt gewidmet und unterstreicht im Editorial die Rolle der Ärzteschaft, auf die medizinischen Folgen des Klimawandels aufmerksam zu machen [6]. Das weltweite Ernährungssystem ist eine der beeinflussbaren Stellgrößen des Klimawandels. In einem der Beiträge [7] wird „Planetary Health“ als neue medizinische Disziplin vorgestellt [8]. Sie biete einen Ansatz „mit der Komplexität der Welt umzugehen“. Es gibt also ermutigende Ansätze für die in [2] angeregte wissenschaftlich differenzierte und handlungsorientierte Aufarbeitung der Thematik für alle Gesundheitsberufe.

Dr. Udo Maid-Kohnert

Literatur

  1. Scholl J: Fleischfrei gesund und klimafreundlich essen – die Evidenz fehlt. Deutsches Ärzteblatt 2020; 117(27–28): A1384–9.
  2. Physicians Association for Nutrition: Stellungnahme zum DÄB-Artikel „Ernährung und Klima: Fleischfrei gesund und klimafreundlich essen – die Evidenz fehlt“. pan-int.org/german-stel lungnahme-pan-dab-artikel/ (last accessed on 24 August 2020).
  3. Maid-Kohnert U: Geht es um Evidenz oder um Arroganz? www. ernaehrungs-umschau.de/onlineplus/10-08-2020-geht-es-umevidenz-oder-um-arroganz/ (last accessed on 24 August 2020).
  4. Bero LA, Norris SL, Lawrence MA: Making nutrition guidelines fit for purpose. BMJ 2019; 355: I1579.
  5. Schwingshackl L: Von der Evidenz zur Empfehlung. Ernährungs Umschau 2020; 67(7): S50–2.
  6. Schmedt M: Die Gesundheit erhalten. [Editorial zum Titelthema Klimakrise]. Deutsches Ärzteblatt 117(33–34:) A1533.
  7. Hartmann S: Einsatz für mehr Nachhaltigkeit. Deutsches Ärzteblatt 117(33–34:) A1562–3.


Diesen Artikel finden Sie auch in ERNÄHRUNGS UMSCHAU 9/2020 auf Seite M511.

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