© metamorworks/iStock/Getty Images Plus
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peb-Kongress 2019: Digitalisierung mitdenken, auch im Bereich Gesundheit

(scs) Social Media, Smartphone, Spielekonsole – die Digitalisierung ist für Kinder und Jugendliche gelebte Realität. Diskussionsmöglichkeiten dazu, wie diese veränderte Realität die Gesundheit der heute aufwachsenden Generation beeinflusst, gab der Kongress der Plattform Ernährung und Bewegung (peb) in Zusammenarbeit mit dem Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL) „Gesund aufwachsen in einer digitalen Welt“ am 20. Februar in Berlin.

„Digitale Medien sind mächtige Verstärker – allerdings nicht per se in eine bestimmte Richtung.“ Diesen Satz des Medienpädagogen Jörn Muuß-Merholz sollten sich Fachkräfte der Gesundheitsförderung wie auch Ernährungsfachkräfte merken. Im Klartext: Wer analog gerne zuhause auf dem Sofa chillt, kann das mit Smartphone noch viel länger. Wer gerne ausgiebig Sport treibt, kann sich mit Tracking- und Fitness-Apps noch mehr pushen, wer auch früher schon gern ausführlich mit FreundInnen plauderte oder Postkarten verschickte, kann sich nun mit noch viel mehr Menschen und ortsunabhängig austauschen.

Die häufig gestellte Frage nach dem „guten“ oder „schlechten“ Einfluss digitaler Medien ist den Ausführungen des Medienpädagogen zufolge daher nicht so einfach zu beantworten und v. a. nicht sinnvoll, auch nicht für Kinder und Jugendliche. Es stellt sich nicht die Frage nach „gut“ oder „schlecht“, sondern danach, welche digitale Entwicklung welche Auswirkungen auf Verhalten und Umwelt von Kindern und Jugendlichen hat.

Diese Frage wiederum ist wichtig, denn Digitalisierung ist und wird noch mehr ein Teil von allem und hat eigentlich gerade erst angefangen, wie Trendforscher Prof. Peter Wippermann aus Hamburg in seinem Vortrag erläuterte. Wie und wohin technologischer und sozialer Wandel noch gehen werden, lässt sich allenfalls ahnen oder prognostizieren. Einige interessante Entwicklungen stellte Wippermann vor: Social Reality (das „echte“ Leben) wird durch Virtual Reality ergänzt in dem Sinne, dass wir uns nicht mehr entweder mehr in der virtuellen oder der „echten“ Welt bewegen, sondern ganz selbstverständlich in beiden unterwegs sein werden. Die virtuelle Welt wird die reale Wirklichkeit für Eltern und Kinder dabei verändern. Wippermann zeigte, wie gerade junge Menschen sich nach virtuellen Idealbildern immer stärker selbst „modellieren“ (z. B. die App „Facetune“). Kinder werden mit den neuen Technologien zukünftig immer stärker vermessen und in ihrer (gesundheitlichen) Entwicklung „optimiert“ werden. Unter die Social Influencer werden sich dabei kaum noch von „echten“ Menschen zu unterscheidende virtuelle Models mischen, die es heute schon vereinzelt gibt („lilmiquela“ auf Instagram).

Aufgrund der sich solchermaßen rasant etablierenden neuen Technologien ist die Entwicklung bereits so schnell vorangeschritten, dass wir mit Bildungskonzepten kaum hinterherkommen: Unterrichtseinheiten zu Facebook bspw. treffen auf Jugendliche, die nur noch auf Instagram unterwegs sind. Gesamtgesellschaftlich sind wir daher erst in einer Art „Pubertät“ des Umgangs mit Digitalisierung, wie Muuß-Merholz es treffend formulierte. Da wir nicht absehen können, wie sich die digital-reale Zukunft gestalten wird, müssen die Gesellschaft und alle Mitglieder – vergleichbar Jugendlichen in der Adoleszenz – nach und nach lernen, mit den Veränderungen umzugehen. Digitalisierung dürfe dabei nicht isoliert als eigenständiges Handlungsfeld betrachtet werden. Da sie ein Teil von allem sei, müsse sie daher auch von allen mitgedacht werden: „Die Rede von einer vierten Kulturtechnik ist gefährlich, denn damit ist unterschwellig oft die Hoffnung verbunden, dass die meisten von uns weitermachen können wie bisher, während sich einige spezialisierte Akteure um ein vermeintliches Spezialfeld Digitalisierung kümmern sollen“, warnte der Medienpädagoge.

Was passiert aber nun mit der Gesundheit der Kinder? Dr. Uwe Büsching, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt, fokussierte v. a. auf die häufig genannten Gefahren zu häufiger Bildschirmnutzung, z. B. als Konkurrenz zur Bewegungsaktivität im Freien. Ihn beunruhigt auch, dass die meisten Eltern keinen Beratungsbedarf zur Nutzung digitaler Medien durch ihre Kinder sähen. Die anderen ExpertInnen sahen neben den Risiken (langes Sitzen, Kurzsichtigkeit, Suchtgefahr …) aber auch positive Impulse: Der Fitnesstrend wird z. B. gerade bei jungen Menschen sehr stark über You-Tube transportiert, der Selftracking-Trend zeigt ein erhöhtes Gesundheitsbewusstsein an.

Auch bei der Ernährung stellte Wippermann solche Ambivalenzen vor. Der Stellenwert hochwertiger Lebensmittel und (gemeinsamen) Kochens steige, sichtbar z. B. in Trends wie Co-Cooking (engl. für ein gemeinsames Koch-„Event“). Die Generation Y achte mehr auf ökologische, regionale und nachhaltige Nahrung. Gleichzeitig fördert Digitalisierung Massenkonsum und Beschleunigung, z. B. über immer schneller und einfacher geliefertes Fast Food.

Mit beidem, Risiken und Chancen der digitalen Transformation, muss die Erwachsenengeneration sich beschäftigen und Kinder und Jugendliche begleiten und anleiten. Das ist alles andere als leicht, weil Erwachsene als Digital Immigrants und durch die rasend schnelle Entwicklung inhaltlich oft eher weniger gut Bescheid wissen als Jugendliche. „Ein Großteil der heutigen Grundschüler wird in Berufen arbeiten, die wir noch nicht kennen,“ so Wippermann dazu. Zudem gibt es noch gar nicht genug Daten dazu, welche und wie viel Nutzung digitaler Medien akzeptabel, nötig, unvermeidbar oder eben riskant für Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene sind. Welche Grenzen sinnvoll sind und wo sie gesetzt werden, wird daher kontrovers gesehen.

Nicht zielführend ist es, so konstatierte Prof. Nicola Döring von der TU Ilmenau – weder bei Eltern noch bei Influencern – eine „kritische Distanz“ zu wahren, d. h. die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen undifferenziert als „Gedaddel“ abzuwerten, ohne „einzusteigen“ in das, was in digitalen Medien eigentlich alles passiert. Sie sieht ein Problem darin, dass die Schwierigkeiten von Menschen, mit den Herausforderungen der heutigen Gesellschaft fertig zu werden, zu viel nur in den Bereich Digitalisierung projiziert werden. So geschieht es häufig mit Problemen, die auch schon vor dem „digitalen Klimawandel“ vorhanden waren: der bequeme Lebensstil in westlichen Gesellschaften, das Auseinandergehen der sozialen Schere mit dem Abgehängtsein ganzer Milieus und nicht zuletzt der Generationenkonflikt.

Generationenkonflikt
Bücherlese-, Kino- und Fernsehsucht

Die zu umfangreiche Nutzung neuer Medien durch Jugendliche als Gegenstand des Generationenkonflikts ist kein neues Phänomen. Die bereits im 18. Jahrhundert aufkommende Diskussion um die „Lesesucht“ v. a. Jugendlicher (und Frauen) sah als unvermeidliche Folgen des Lesens von Romanen „Widerwillen gegen jede reelle Arbeit […] ewige Zerstreuung und unaufhörliche Ratlosigkeit der Seele, die nie eine Wahrheit ganz fassen, nie einen Gedanken ganz fest halten kann“ (Benecke, zitiert von Dominik von König: Lesesucht und Lesewut. 1977, S. 101–103). Im 20. Jahrhundert schlossen sich mit ähnlichen Argumenten die Kritik der „Kinosucht“ und der „Fernsehsucht“ an.

Die dringende Empfehlung der ExpertInnen am Ende des Tages lautete daher: Ob Gesundheitsfördernde, LehrerInnen oder PolitikerInnen: Die digitalen Entwicklungen und das große Interesse der Jugend daran dürfen weder verteufelt noch naiv idealisiert werden, statt dessen muss sich die Gesellschaft mit digitalen Entwicklungen beschäftigen und partizipative Bildungskonzepte (nicht nur) für Kinder und Jugendliche für den Umgang mit neuen Technologien, Social Media, Virtual Reality etc. entwickeln.

Interessieren Sie sich für digitale Entwicklungen im Ernährungsbereich?
=> 3. Tagung der ERNÄHRUNGS UMSCHAU, 25.10.2019, „Ernährungsfachkraft 4.0 – erfolgreich OMline“, S. M189.



Diesen Artikel finden Sie auch in Ernährungs Umschau 4/2019 auf den Seiten M194-M195.

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